Nach einer kurzen Nacht, ich hatte gestern Nacht eine längere Diskussion mit der Rezeptionistin und Einwohnerin von Trjavna, stehe ich heute früh auf. Es gibt nur 2 tägliche Zugsverbindungen nach Plovdiv, der bulgarischen Kulturhauptstadt 2019.
Ich habe heute früh, welch ein Lichtblick, Brot und Butter, Marmelade und Honig, Käse und Fleisch, sowie etwas Gemüse erhalten, toll, danke!
Nach einem Nachrichten-Austausch mit Nenko wird klar, dass mein bulgarischer Freund und Reiseleiter leider nicht ganz gesund ist, sich auf seiner Londonreise vor ein paar Tagen offenbar übernommen hat und nicht nach Plovdiv kommen kann — gute Besserung Nenko!
Andererseits habe ich im TV und einer Tageszeitung nicht gerade gute News aus der Kulturhauptstadt Plovdiv erhalten, möchte da als Alleinreisender deshalb momentan nicht hin.
Also beschliesse ich kurzfristig, heute nach Bukarest zu reisen, um am Abend bei Ankunft zumindest einen rumänischen Freund zu sehen. Muss mich beeilen dieser Zug fährt noch früher, nämlich bereits 09.07 Uhr. Die nächste Verbindung nach Bukarest wäre erst wieder morgen früh. Spätestens beim Reisen durch Osteuropa muss jedem klar werden, wie spitzenmässig gut unser ÖV in der Schweiz und in ganz Westeuropa ist.
Kurz nach 9 Uhr verlasse ich das Hotel, haste zum Bahnhof. Auf dem Bahnhofsplatz übersehe ich eine nicht fixierte Bodenplatte, die nachlässt. Ich stürze halbwegs in ein verdecktes Loch! Stechende Schmerzen, ich scheine aber meine Beine noch belasten zu können.
Mit letzter Kraft raffe ich mich auf und humple zum eben einfahrenden Zug.
Erst im Wagen drinnen wird mir bewusst, dass etwas Warmes, nämlich Blut, mein Bein herunter rinnt, das eine Knie ist total aufgeschlagen, das andere schmerzt höllisch.
Ich beschränke mich darauf, das Blut raschestens zu stillen, aber nichts zu verbinden, um nicht noch mehr Aufsehen zu erzeugen.
5 Viertelstunden später in Gorna Oryahovitza muss ich umsteigen und habe eine Stunde Zeit. Ich humple ans Perronende und begutachte meine Knie. Wenn nur der Schmerz endlich nachliesse!
Gehe zurück in den Bahnhof, trinke Kaffee, esse Süssigkeiten. Der Zug nach Russe ist wiederum ein komplett verschmutzter, teils auch versprayter Triebwagenzug der Baureihe ER25 bzw ER33 mit extrem hochfliegendem Einstieg. Ich kann fast nicht reinsteigen.
Unterwegs steigen Fahrleitungsmonteure der bulgarischen Staatsbahnen, BDZ, ein. Mit einem ca 30-40 Jährigen bin ich bald einmal in einem Interessanten Gespräch. Hin und wieder muss er für seine meist älteren Kollegen, die keinen Kontakt wollen, übersetzen.
Wir nähern uns Russe. Plötzlich halten wir an einem Bahnhof, den ich schon gut kenne: Ivanovo. Hier haben wir vor über 10 Jahren auf der Fahrradtour von Wien ans Schwarze Meer auf dem Abstecher zu den Felsenkirchen und dem Naturreservat Rusenski Lom (http://bulgariatravel.org/de/object/93/Park_Rusenski_Lom) Züge beobachtet. Wann war dies?
13.40 in Russe, der rechtsufrigen Donaustadt an der Grenze zu Rumänien. Ich wollte eigentlich in die Innenstadt laufen, eventuell irgendwo etwas essen. Das eine Knie schmerzt immer noch allzu fest.
Lasse mich also von einem Taxi bis an der Beginn der Fussgängerzone kutschieren.
Spaziere ruhig, verzichte auf einen Gaststättenbesuch, schaue mich nach Hotels um, setze mich immer wieder mal hin, würde doch gerne eine Nacht hier bleiben.
In der Touristeninfo will ich neue Infos zur Stadt und zu Rusenski Lom, möchte gerne heute noch dahin. Ein junger Mann bedient mich sehr aufmerksam und erklärt mir Alles. Dies passt seinem Chef nicht, der mischt sich ein, ich wolle gar nichts zu Rusenski Lom wissen, ich sei ein blöder Tourist und überhaupt er gebe keine Infos raus und beschimpft mich dann aufs Übelste!
Dem jungen Angestellten tut die Attacke seines Chefs leid, aber er kann sich nicht wehren, er lächelt und bittet mich mit Gesten das Büro zu verlassen. Schade aber okay!
Draussen auf der Strasse spricht mich ein Student an. Er hat die ganze Geschichte verfolgt. Er hat ebenfalls mein Regenbogenarmband, das mir in den letzten Tagen so manches gute Gespräch ermöglicht hat, gesehen.
Er sagt, vor 20 Jahren wäre ich hierfür in Ruse noch angespuckt und verprügelt worden. Für Schwule habe sich in den letzten Jahren aber vieles gebessert (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Homosexualität_in_Bulgarien), auch wenn nicht nicht alle Ziele erreicht worden seien.
Wir führen ein längeres Gespräch, bis ich am Ende der Fussgängezone ein Taxi zum Bahnhof benötige. Mein Knie schmerzt so sehr, ich kann kaum mehr laufen.
Jetzt beschliesse ich kurzentschlossen, raschestens nach Wien zu reisen, da ich aufgrund gemachter Erfahrungen in Bulgarien oder in Bukarest nicht in ein Spital möchte.
Am internationalen Schalter buche ich mir ein Single-Abteil für morgen 14.00 Uhr ab Bukarest nach Wien (98€).
Komme erst knapp vor der Abfahrtszeit aufs Perron, wo ich, wie das knappe halbe Dutzend weiterer Fahrgäste, bereits von einem Grenzer erwartet werde.
Meine Identitätskarte wird mir abgenommen, ich werde aber geheissen ebenfalls einzusteigen. Etwas verspätet fahren wir ab, nachdem alle Dokumente wieder ihren Besitzer gefunden haben.
Unser Desiro schleicht mit wechselnden Geschwindigkeiten zwischen 10 und 40 Kilometern je Stunde nach Russe, die Gleislage ist miserabel.
Das ergibt für mich eine etwas bessere Möglichkeit der Sichtung von ausländischen Güterzugsunternehmungen (DB Romania, DB Bulgaria, usw).
Gemütliche Reise über die doppelstöckige Eisenbahn-Strassenbrücke über die Donau.
In Giurgiu Nord wiederum das gleiche Spielchen. Dokumente werden eingesammelt und 5 Minuten später zurückgebracht. Sodann darf wer will, den Zug verlassen und sich den Bahnhof anschauen.
15 Minuten später setzen wir die Fahrt fort. Ich bin erstaunt wieviele Güterzüge hier in Rumänien unterwegs sind und dass über die Hälfte der Züge von privaten EVU geführt werden.
18.55 in Bukarest.
Habe mir aus dem Zug ein Zimmer in Eurohotels, 200 Meter vom Südausgang des Bahnhofs entfernt gebucht.
Bin überrascht wie hell, sauber, lichtdurchlässig und leer der Bahnhof ist. Die Reisenden werden nicht mehr auf Schritt und Tritt von Taschendieben, die überall hin langen und Bettlern belästigt.
Komme trotz meines langsamen Ganges ohne Probleme ins Hotel. Zimmerbezug, ausruhen, später esse ich etwas vom Buffet in der Hotelhalle.
Tagebuch schreiben. Bauarbeiten unten auf der Strasse vor dem Hotel: 3 Arbeiter in orangen Gewändern, 5 Häuptlinge, teils mit den Händen in den Hosentaschen!
Ich hatte gestern tagsüber, am Abend, in der Nacht und heute den Tag über gute und teils längere Gespräche mit einer Griechin sowie mehreren Bulgarinnen und Bulgaren. Bis auf zwei Ausnahmen haben sie nach ein paar Jahren Berufserfahrung als AgraringenieurInnen, KrankenpflegerIn, Säuglingspflegerin in ihrer Heimat, im europäischen Ausland in viel tieferen Stellungen als Putzfrau, Strassenwischer, Mädchen für Alles, Hausangestellte gearbeitet und haben erst nach und nach (quasi nach einer Bewährung) in ihren erlernten Berufen arbeiten können und etwas mehr, wenn auch immer noch massiv weniger als ihre ortsansässigen KollegInnen verdient. Sie sind allesamt wegen der Diskriminierung als osteuropäische Arbeitnehmende, sowie der Heimat und den sozialen Kontakten wegen, wieder heimgekehrt zu Familie, Eltern und Freunden. Fast alle (3 Männer und 2 Frauen, zwischen 19 und 69) beklagten sich wegen der hier und auch in Griechenland immer noch vorhandenen bzw vorherrschenden Vetternwirtschaft, der Unterschlagung von Geld (vorallem durch bewusst falsche Abrechnung und Annullation von Rechnungen), der Klein- und Gross-Kriminalität, den mafiösen Strukturen, der meist unterschwelligen Frauenunterdrückung und sexuellen Attacken, dem Dreck und dem total fehlenden Verständnis für Natur und Umwelt. Ich bin teils komplett deprimiert und hilflos nach diesen Diskussionen. 2 Frauen haben mir direkt gesagt, wenn sie mein Regenbogenarmband nicht gesehen hätten und sofort Bescheid gewusst hätten, hätten sie sich nicht getraut, mit einem unbekannten Touristen, so offen und ohne Angst zu reden. In was für einer himmeltraurigen Welt leben wir eigentlich?